Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Simon befasst sich mit der Häufigkeit und dem Schweregrad von verbaler, physischer und sexueller Gewalt gegen Pflegende in der Psychiatrie

Prevalence

Aufgrund alarmierender Zahlen sind weiterführende und proaktive Strategien zur Gewaltprävention erforderlich.

Beschimpfungen und sexuelle Übergriffe: Die Gefahr, dass Pflegende in der stationären Psychiatrie durch Patientinnen und Patienten angegriffen werden, ist hoch. Das zeigt eine Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Simon. Die Forschenden fordern deshalb neue Strategien zur Gewaltprävention.

Gewalt von Patientinnen und Patienten gegenüber Pflegenden ist ein bekanntes, wiederkehrendes Problem in der stationären Psychiatrie. Dennoch gelang es bisherigen Studien nicht, dieses Phänomen in seiner Komplexität zu fassen. Zahlen zur Häufigkeit variieren stark; Einerseits aufgrund unterschiedlicher Definitionen von Gewalt, andererseits, weil die verschiedenen Formen von Gewalt zu wenig ausdifferenziert sind und Fälle sexueller Gewalt meist gar nicht erfasst werden.

Zusätzlich existieren inkonsistente Ergebnisse, was den Zusammenhang von Merkmalen der Pflegenden mit dem Auftreten von Gewalt ihnen gegenüber betrifft.  Unter diesen Merkmalen verstehen die Forschenden Faktoren wie Alter, Geschlecht, Berufserfahrung und Arbeitspensum, aber auch die Einstellung der Pflegenden gegenüber Gewalt an ihrem Arbeitsplatz.

Eine Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Simon hat nun die Häufigkeit und den Schweregrad von verbaler, physischer und sexueller Gewalt von Patientinnen und Patienten gegenüber Pflegenden erfasst und den Zusammenhang zwischen Merkmalen der Pflegenden und dem Auftreten von Gewalt ihnen gegenüber untersucht.

Die Ergebnisse lassen aufhorchen

Die Stichprobe der Studie umfasste insgesamt 1128 Pflegefachpersonen mit einem Arbeitsort in der Deutschschweiz. Sie wurden zum einen zu Erlebnissen mit Gewalt durch Patientinnen und Patienten gegenüber Gegenständen befragt. Zum anderen sollten sie Angaben machen zu persönlichen Erfahrungen mit leichteren Formen von physischer und psychischer sowie spezifisch verbaler und physischer sexueller Gewalt im vorangegangenen Monat. Die Anzahl von schweren Gewaltangriffen hingegen wurde über die gesamte berufliche Karriere erfragt.

Über die Zeitspanne von 30 Tagen waren 73 Prozent der befragten Pflegenden mindestens einmal von verbaler Gewalt betroffen. 63 Prozent beobachteten Gewalt gegenüber Gegenständen. 40 Prozent erlebten verbale sexuelle Gewalt und 14 Prozent berichten von physischer sexueller Gewalt. Leichtere Formen von physischer Gewalt betrafen 28 Prozent. Fast jede und jeder dritte Pflegende (30 Prozent) gab an, während der gesamten beruflichen Karriere in der Psychiatrie schon einmal körperlich schwer verletzt worden zu sein.

Die Studie zeigt: Sowohl Alter, Geschlecht als auch das Arbeitspensum von Pflegefachpersonen stehen in direktem Zusammenhang mit der Häufigkeit von Gewalterfahrungen. Bei jüngeren Frauen mit hohem Arbeitspensum und weniger als drei Jahren Berufserfahrung ist die Gefahr verbaler sexueller Übergriffe besonders hoch.

Bisherige Gewaltprävention reicht nicht

Die Forschungsgruppe betont, dass inzwischen etablierte Strategien wie Aggressionsmanagement-Training oder Alarmgeräte auf den Stationen die Gewalt von Patientinnen und Patienten gegenüber Pflegenden auf der stationären Psychiatrie nicht ausreichend reduzieren. Sie fordern deshalb weiterführende, proaktive nationale und internationale Strategien zur Gewaltprävention für das Pflegepersonal in der Psychiatrie.

Originalpublikation

Nanja Schlup, Beatrice Gehri und Michael Simon

Prevalence and severity of verbal, physical, and sexual inpatient violence against nurses in Swiss psychiatric hospitals and associated nurse-related characteristics: Cross-sectional multicentre study

International Journal of Mental Health Nursing (2021), doi: 10.1111/inm.12905

Weitere Auskünfte

Prof. Dr. Michael Simon, Universität Basel, Medizinische Fakultät, Institut für Pflegewissenschaft, Departement Public Health, Tel. +41 61 207 09 12, E-Mail: m.simon@unibas.ch